One line

Lucia Ronchetti: Anatra al sal

für sechs Stimmen a cappella

Das Madrigal ist im 20. Jahrhundert, der legendären Experimentierfreude von Komponisten wie Monteverdi zum Trotz, manchmal zum Ort der konservativen Rückbesinnung degradiert worden. Als etwa Paul Hindemith in den fünfziger Jahren die ausdrückliche Hoffnung auf Reanimation dieser musikalischen Darstellungsform formulierte, war das der signifikante Ausdruck eines Künstlers, der den neuesten Entwicklungen der Tonkunst kritisch gegenüber stand und einen eminenten Sprachverlust beklagte. Verschiedene Vokalwerke der letzten Jahrzehnte haben indessen gezeigt, dass auch das Anknüpfen an die Tradition madrigalesken Komponierens etwas Produktives sein kann, ohne sich einfach in den sicheren Hafen des Erprobten zu begeben oder sich nostalgischer Tönungen zu bedienen. Das Komponieren mit Affekten allerdings hat dabeiinsbesondere im Vergleich mit der seriellen Musik der fünfziger Jahre wird das deutlich-tatsächlich erheblich an Raum gewonnen.

 

Lucia Ronchettis Komposition »Anatra al sal«, im Jahre 2000 bei den Wittener Kammermusiktagen uraufgeführt, ist hierfür ein vitales Beispiel. Sucht man nach historischen Bezügen ihres kompositorischen Konzepts, wird man schnell bei der Form der integralen Madrigalkomödie fündig, wie sie etwa Adriano Banchieri so meisterhaft gestaltete. Man nannte das damals auch »madrigale rappresentativo« (darstellendes Madrigal). »Alles Theater« heißt in diesem Vokalwerk der 1963 in Rom geborenen Komponistin: jede Geste, jede musikalische Nuancierung ist Teil eines ironisch grundierten musikdramatischen Prozesses. Ein allzu erhabenes, ernstes Thema würde man hier vergeblich suchen. Es geht um Kochkunst: fünf gelehrte Meister dieses Faches sowie eine Gehilfin stellen eine Liste mit Gerichten zusammen, einigen sich schließlich auf die im Titel des Stückes genannte, vergleichsweise schlichte »Ente mit Salz«. Im zweiten Abschnitt wird ihre Zubereitung geschildert. Doch schon im dritten Abschnitt gibt es Konflikte über die Soße, die im vierten Teil kulminierenehe dann im Finale das gelungene Resultat alle leidenschaftlich ausgetragenen Streitigkeiten überwinden lässt.

 

Angeregt von der Dichtung des 16. Jahrhunderts hat die Komponistin die Texte der sechs Vokalisten charakteristischen Bedingungen unterworfen: fünf von ihnen beruhen jeweils auf nur einem einzigen Vokal. Wie sehr das als »harmonische Komödie« bezeichnete Stück durch diese spezifischen Charakterisierungen gerade für die Neuen Vocalsolisten Stuttgart maßgeschneidert ist, vermag die Beschreibung der Komponistin anzudeuten: »Der tiefe Bass Andreas Fischer stellt den wichtigsten und bekanntesten Koch der Gruppe dar. Er zieht nur lateinische Texte zu Rate, verwendet dabei ausschließlich Wörter mit dem Vokal u und mischt sich mit kurzen und sarkastischen Kommentaren ein, die ebenfalls lateinisch sind. Zu seinem Gefolge gehört eine Assistentin, die lyrische Sopranistin Susanne Leitz-Lorey. Sie übersetzt frei und poetisch die strengen Kommentare des Basses und ist die einzige Stimme, die vom Zwang des Sprechens auf einem Vokal befreit ist. Daher stellt sie einen roten Faden zwischen allen Stimmen und Vokalen dar und bildet gleichzeitig den tenor des Geschehens, indem sie alle harmonischen Entwicklungen miteinander verschmilzt, auf denen der fünfstimmige Kontrapunkt der Köche basiert. Der Gebrauch der Monovokalismen unterstreicht den angestrebten komischen Effekt und hebt die spezielle Klang-farbenstruktur jeder Stimme hervor.« Aus alledem, so wäre noch zu ergänzen, resultiert ein ebenso perspektivenreiches wie schwungvolles Spiel im Grenzbereich von Konkretion und Abstraktion.

 

(Jörn Peter Hiekel)