Thomas Kessler: Voice Control
für drei Stimmen und Live-Elektronik (1994)
(1993/1997)Die »Control«-Kompositionen sind eine Reihe von live-elektronischen Studien, in denen jeweils ein Instrument sehr eng mit elektronischen Geräten (Synthesizern, Computern) verbunden ist. Es geht in diesen Stücken vor allem um eine Erweiterung der traditionellen Artikulationsmöglichkeiten eines Instrumentes. Aus diesem Grunde spielt der Instrumentalist nicht mehr sein Instrument allein, sondern überträgt seine Spieltechnik und Reaktionsfähigkeit ohne Hilfe eines zusätzlichen Assistenten auch auf die elektronischen Instrumente. Das Wort Control stammt aus dem Bereich der Analog-Synthesizertechnik, wird aber auch in der Computersprache verwendet und bedeutet »Steuerung«. Hier vollzieht sich diese Steuerung auf verschiedenen Ebenen zwischen Interpret, Instrument und Elektronik.
Voice Control entstand 1993/94 für das damals bekannte Schlagzeugtrio »Le Cercle« mit den grossartigen Schlagzeugern Jean-Pierre Drouet, Willy Coquillat und Gaston Sylvestre. Im Laufe der engen Zusammenarbeit haben wir die Schlagzeuginstrumente immer mehr reduziert, bis schliesslich mit einer versteckten Ausnahme nur noch der Körper und die menschliche Stimme als ein Instrument übrig blieb.
(Thomas Kessler)
Der verwendete Text bezieht sich auf das Buch von Kalila und Dimna, einer Sammlung von indischen Fabeln aus dem 3. Jahrhundert, in der Überlieferung von Ibn Al-Muqaffa (11. Jhr.) und der französischen Übersetzung von André Miquel. Ich habe daraus folgende Fabeln ausgewählt:
DER LÖWE UND DER OCHSE
Auf dem Weg nach Mathur musste ein Händler mit seinem Ochsengespann eine äusserst sumpfige Stelle durchqueren. Einer der Ochsen mit dem Namen Chanzaba blieb im Schlamm hoffnungslos stecken. Da band der Händler das beinahe tote Tier los und überliess es allein seinem Schicksal. Am andern Tag jedoch, als der Händler verschwunden war, schleppte der Ochse sich mit letzter Kraft auf eine grüne Wiese, voll mit saftigem Gras. Chanzaba wurde schnell gross und dick und fing an, mit kräftiger Stimme brüllende Rufe auszustossen.
Nun lebte dort in der Nähe ein Löwe mit dem Namen Bankala, ein König mit seinem Hofstaat von vielen wilden Tieren, voller Stolz und von überragender Grösse. Als er das Brüllen des Ochsen hörte, bekam er, der noch nie so etwas gehört hatte, Angst und rührte sich nicht mehr vom Fleck. Zu seinem Berater, dem Schakal Dimna, sagte er: »Das Brüllen, das sich hier verbreitet, ist mir unbekannt, es ist jedoch wahrscheinlich, dass derjenige, der das ausstösst, eine ähnliche Grösse besitzt wie seine Stimme, und wenn das so ist, dann sind unsere Tage hier gezählt.«…….
DER FUCHS UND DIE TROMMEL
Man erzählt, dass ein hungriger Fuchs an einem Gehölz vorbeikam, wo an einem Baum eine Trommel hing. Der Wind begann zu blasen und die Äste des Baumes schlugen die Trommel mit lautem Klang. Bei diesem Geräusch drehte sich der Fuchs nach dieser Richtung und gelangte bis zur Trommel. Als er sah, wie gross sie war, dachte er, dass sich darin sehr viel Fett und Fleisch verbergen musste. Er begann die Trommel zu drehen und zu wenden, so heftig, dass sie zerbrach. Als er sah, dass sie hohl war, meinte er: »Ich weiss nicht, ob nicht die schäbigsten Dinge die sind, welche am grössten sind und am meisten Lärm machen«.
DIE KATZE UND DIE RATTE
Man erzählt, dass es im Lande Sarandib einen grossen Baum gab, an dessen Fuss zwei Erdlöcher waren: in dem einen lebte eine Ratte, Faridun, im andern eine Katze, Rumi. Nun gingen dort auf der Suche nach Wild oft Jäger vorbei, und eines Tages wurde die Katze in einem ihrer Netze gefangen. Als die Ratte, immer auf der Hut, nach Nahrung ausspähte, war sie sehr zufrieden zu sehen, dass die Katze gefangen war. Jedoch schon wurde auch sie von einem Wiesel verfolgt und hinter ihr lauerte auf einem Baum eine Eule.
Unsere Ratte hatte grosse Angst. Sie konnte weder vor noch zurück und dachte, dass es in dieser ausweglosen Situation das Beste wäre, mit der Katze Frieden zu schliessen. Es könnte die Rettung für sie beide sein…… Sie sprachen miteinander wie Freunde und als die Ratte begann, das Netz der Katze zu durchbeissen, nahm die Katze die Ratte in ihre Pfoten und umarmte sie. Als die Eule und das Wiesel dieses Spektakel sahen, zogen sie sich sehr enttäuscht zurück.
Die Ratte jedoch beeilte sich nicht, sondern liess am Ende eine Masche intakt und wartete, da sie der Freundschaft mit ihrem Todfeind nicht traute. Die Katze war sehr verzweifelt, doch als der Jäger zurückkam, biss die Ratte die letzte Masche durch, sodass beide sich im letzten Moment in ihr Erdloch retten konnten.
DIE AFFEN UND DAS LEUCHTENDE GLAS
Man erzählt, dass eine Gruppe von Affen, die in den Bergen lebte, in einer kalten Nacht ein glitzerndes Glas entdeckten, das sie für ein Feuer hielten und auf welches sie einen Haufen von Holz schichteten. Anschliessend begannen sie zu blasen und mit ihren Händen das Holz anzufächeln. Nun sass da ganz in der Nähe auf einem Baum ein Vogel: »Bemüht euch nicht«, sagte er zu den Affen, »was ihr da gesehen habt, ist kein Feuer«. Aber die Affen stellten sich taub und wollten nichts hören. Nach einer Weile flog der Vogel vom Baum herunter. Ein Mann, der vorbeiging, warnte ihn: »Versuche nicht jemanden zu belehren, der einen verdrehten Geist hat oder jemanden die Augen zu öffnen, der nichts versteht«. Aber der Vogel näherte sich den Affen um sie aufzuklären. Da packte einer von Ihnen den Vogel und tötete ihn indem er ihn auf den Boden schmetterte.
DER HÄNDLER UND DER HARFENSPIELER
….wie man erzählt, war einmal ein Händler, der eine grosse Menge Perlen besass. Um sie zu bearbeiten bestellte er einen Mann für den Lohn von 100 Dinar pro Tag. Als sie sich setzten, bemerkte der Mann mit Interesse eine Harfe, die da stand. Der Händler fragte ihn, ob er darauf einigermassen gut spielen könne. Der Mann bejahte und der Händler erlaubte ihm darauf zu spielen. Der Mann nahm das Instrument, auf welchem er sehr geschickt war, und spielte und sang mit schöner Stimme ohne Unterbruch. Er liess den offenen Korb mit den Perlen stehen und widmete sich der Musik. Als aber der Abend kam, fragte er nach seinem Lohn. »Hast Du gearbeitet?« fragte der Händler–»Ja, ich habe das gemacht, was Du von mir verlangt hast«. Der Händler zahlte den Lohn und die Arbeit blieb unausgeführt.
(frei übersetzt von Thomas Kessler)