One line

Klaus Lang: viola. harmonium. licht.

für Viola d’amore, Harmonium und Orchester

(2015)

Berge und Wolken
»Und du siehst die Berge, die du fest gegründet glaubst, doch sie bewegen sich wie die Bewegung der Wolken.«
(Koran Sure 27/89)

 

Man könnte meinen, dass eine Schnecke und eine Fliege in einer komplett unterschiedlichen Zeitlichkeit leben. Stellen wir uns vor, dass beide eine Bushaltestelle beobachten: Für die Schnecke bewegen sich die Busse in einer unglaublich rasenden Geschwindigkeit. Ich stelle mir vor, dass es für die Schnecke gar keine einzelnen Busse gibt, die kommen und die Haltestelle verlassen, sondern, dass genauso, wie wir eine Serie von extrem schnell aufeinanderfolgenden Schwingungsimpulsen als einen lange ausgehaltenen Ton wahrnehmen, die Schnecke die Abfolge von einzelnen Bussen als eine lange kontinuierliche Linie sieht. All die einzelnen Busse werden zu einem stabilen substanziellen Objekt, welches regelmäßig seine Dichte ein wenig verändert.
Im Gegensatz dazu sieht die Fliege, mit ihrer sehr hoch entwickelten und in sehr großer Geschwindigkeit arbeitenden visuellen Wahrnehmung in meiner Vorstellung einen einzelnen Bus als ein substanzloses Aggregat von unterschiedlich schnell pulsierenden Lichtimpulsketten und nicht wie wir als ein stabiles Objekt, das wir »Bus« nennen.

 

Wenn man die europäische Musikgeschichte betrachtet, kann man eine interessante Entwicklung beobachten. Über Jahrhunderte hat man versucht, für etwas eine Schriftform zu finden, das eigentlich ein substanzloser Prozess ist, nämlich ein sich in der Zeit entfaltender Klang. Die Entwicklung führte von einem eher fließenden graphischen Gebilde, welches Handzeichen abbildet, zu einem Notationssystem, welches eine Grundfigur der westlichen Interpretation der Wirklichkeit überhaupt widerspiegelt: Den Dualismus zwischen Substanz und Attribut. Man hat durch die Art der Notation einen Aspekt von Klang als Substanz definiert (nämlich die Tonhöhe) und alle anderen Klangeigenschaften (Klangfarbe, Lautstärke etc.) als bloße Attribute angesehen.
Durch die Quadratnotation ist aus einem mehrdimensionalen Prozess ein klar definiertes festes Objekt geworden. Diese Art von Notation ermöglichte dann ein auf die musikalische Struktur zugreifendes Denken in den Begriffen von Substanz und Objekt. Durch dieses Notationsdenken erst kann man in Analogie dazu visuell oder haptisch Wahrgenommenes kategorisieren und »Stammtöne« denken, die eine funktionale Substanz bilden, die dann »ausgeschmückt« wird. Erst durch die Notation gibt es die Möglichkeit, in musikalischen Objekten zu denken, die eine Funktion erfüllen und in Ornamenten, die mit der Funktion nichts zu tun haben und zur Zierde, als »Verzierungen« dienen.

 

In der Kunst- und Musikgeschichte war die Haltung gegenüber Ornamenten starken Schwankungen unterworfen. Eine extreme Position bezog der Architekt Adolf Loos, zusammengefasst steckt sie in seinem berühmten Satz: »Ornament ist Verbrechen«. Seine künstlerische Position war die der klassischen Moderne: Form folgt der Funktion. Was immer zu sehen ist, ist notwendig für die Funktion eines Objektes. Mit den Begriffen des Substanz-Attribut-Dualismus könnte man seine Position folgendermaßen zusammenfassen: Alles Überflüssige soll vermieden werden, bis das, was man sehen kann, die pure Substanz ist.

Durch das Bilderverbot einerseits und den Versuch, Unendliches künstlerisch zu repräsentieren, war die Islamische Kunst gezwungen, einen völlig entgegengesetzten Weg zu gehen und hat es geschafft, einen äußerst bemerkenswerten Paradigmenwechsel zu vollbringen: Das Ornament ist nicht mehr das Attribut, die Kunst selbst ist zum Ornament geworden. Im Kontrast zu Adolf Loos wurde alles Substanzielle entfernt, bis alles, was es zu sehen gibt, reines Ornament ist. Man könnte sagen: Das Attribut wurde zur Substanz und dadurch der grundlegende Dualismus gelöst.

 

Auf ornamentalen Formen beruhende und abstrakte Kunst ist auch befreit von jedem konkreten und narrativen Inhalt, der Kunstwerke anderer Traditionen oft begrenzt (= definiert). Musik ohne das Ziel, etwas Außermusikalisches abzubilden oder auszudrücken, kann erlebt werden als das sich freie Entfalten von Klang in der Zeit, als Zeit, hörbargemacht durch Klang. Und ist nicht gerade das eine zentrale Fähigkeit von Kunst: mit ihren Mitteln den ungesicherten Bereich jenseits von Denken und Sprache zu erforschen und zugänglich zu machen? Räume zu öffnen, statt sie durch Definitionen zu begrenzen, und uns dadurch zu ermöglichen, eine andere Form von Wahrnehmung zu erleben? Kunst ist beheimatet im Bereich jenseits von Inhalt und Geschmack, und indem sie nichts sagt, sagt sie vielleicht alles.

(Klaus Lang)