One line

Giorgio Netti: urRito I

für Kontrabass solo

(2015)

Ur
Ur -Welt, -Sprache, -Textdie deutsche Sprache erinnert uns und sich selbst an ein Stehen, ein Stehenbleiben gegen den Strom.

 

In vielen der aktuellen (musikalischen) Konventionen existiert ein erweiterter Sinn, sozusagen ein Angelpunkt, um den herum sich nach und nach die unterschiedlichen Blickwinkel als Strahlen entwickeln, die sich immer mehr von ihrem gemeinsamen Ursprung entfernen, bis sie einander in Bezug auf die jeweiligen Schlussfolgerungen ausschließen. Diese grundlegende Erfahrung erlaubt es jedem, die eigene kulturelle und persönliche Identität zu entwickeln: ein fortschreitendes Auswahlverfahren, das den anderen oftmals ausschließt oder ihn sogar bekämpft. Damit sind wir in der unendlichen Komplexität der aktuellen Welt angekommen, in ihrer unaufhaltsamen Aufteilung, aber auch in der Möglichkeit eines Blicks oder Zuhörens, das sich stärker darüber bewusst ist, woraus wir gemacht sind. Die Vorsilbe ur- führt uns zeitweilig heraus aus dem Getümmel, hebt die Zentrifugalkraft jeder Interpretation auf und aktiviert deren zentripetales Potential: nur scheinbar handelt es sich dabei um eine Rückkehr, vielmehr ist es eine unverzichtbare Aufladung für einen interpretatorischen Paradigmenwechsel, der uns dazu dienen wird, scheinbar unvereinbare Schlussfolgerungen zu einer neuen, wenn auch provisorischen allgemeinen Ordnung zu verbinden.

 

ur, 2 riti per contrabbasso (davon wird bei ECLAT der erste Teil zu hören sein) ist eine Reflexion über die beiden Hauptaufgaben des Kontrabasses in der Musikgeschichte: die intensive, vereinigende Energie seines Borduns und der Generalbass, der später zum »walking« (und »talking«) Bass und damit zum verborgenen Motor für jeden Tanz wurde. Ich erforschte diese doppelte, fortlaufende und diskrete Natur und parallel dazu die Heiligkeit des Stiers (der für mich dem Kontrabass besonders nahe steht) in vielen Kulturen, insbesondere den Mythos des Minotaurus.
Drei Entwicklungslinien haben sich dabei miteinander verflochten:der langgezogene Ton als kräftiger Lebenstriebdie Artikulation (der Knoten, die Falte) als unerschöpfliches generatives Prinzipdas Labyrinth (dessen Entwurf und Durchquerung) als gewagte Metapher des Komponierens Daraus entwickelte sich eine doppelte spiegelbildliche, jedoch asymmetrische Vision, wobei eine die andere aktiviert und sich zugleich selbst verwandelt. Aus der Vision entstehen dann die beiden Riten als exakte Formulierung der Gesten, die es beiden erlaubt, (beinah) unversehrt daraus auf zwei unterschiedlichen Wegen hervorzugehen.

urRito I hat drei Teile:

I.1 untersucht die Verbindungen zwischen hohen und tiefen Tönen, ausgehend von der zweiten leeren Saite (Cis) und ihrem siebten Oberton, um nach und nach die anderen Saiten (A, G und F) miteinzubeziehen; daraus erwächst ein Labyrinth von Echos und Gleichzeitigkeiten, gewoben aus der zyklischen Wiederkehr der Flageolett-Töne über die gesamten Ausdehnung der vier Saiten. In seinem Inneren wechseln sich Phasen hoher und tiefer Klänge ab; das gehaltene Piano der alternierenden Phasen neigt sich und oszilliert zwischen entspannter Metrik und einem drängenden Puls, bis hin zum Entstehen eines intensiven energetischen Zustands.

I.2 überwindet den Puls und stürzt sich in einen halsbrecherischen Tanz des Überlebens, zwischen einem immer stärker artikulierten (instrumentalen) Bewusstsein und seinem kräftigen Körper; dabei zeigt sich, dass beide aus verschiedenen Abstufungen derselben Materie bestehen: Keine der beiden unterliegt also, doch nichts wird so sein wie zuvor.
I.3 ist eine Zäsur und ein Überrest, weder innerhalb noch außerhalb des aufgelösten Labyrinths: Die lückenhafte Synthese der Ereignisse ist, auf ein Jenseits projiziert, damit der einzige Halt auf einer unterbrochenen Brücke.

 

— (rdas andere Ufer, auf das die Brücke zielte; wir sind bereits dort. Rito II verfügt über zwei Teile. II.1 verzichtet auf den Bogen und II.2 findet ihn radikal verändert wieder; doch davon werde ich genauer Auskunft geben, wenn es uraufgeführt wird.)

 

Die beiden Riten möchten an den sakralen Ursprung des Begehrens erinnern und diesen bewahren (»Kama, der erste Samen des Bewusstseins«, so übersetzte der französische Indologe Louis Renou aus dem Rigveda, dem ältesten Teil der vier hinduistischen Veden, 10, 129, 4) und umschrieb damit einen Ort und zwei Wege in dessen Inneres. Eine doppelte Widmung hat seine Koordinaten bestimmt: für Stefano Scodanibbio, den Entdecker und Poeten dieses Instruments, und Gérard Grisey, der aus der Leere seiner IV. Saite einen gesamten espace acoustique erschuf.
Giorgio Netti (Übersetzung aus dem Italienischen: Christian Breuer)