Mark Andre: 3
für sechs Stimmen
(2015)Mark Andre über »3«
»Es geht um einen Weg zum Innersten«
Mark Andre im Gespräch mit Annette Eckerle
(Das Interview fand am 15. November 2015 in Stuttgart statt.)
A.E. Mark, Du hast Deiner Komposition, an deren Ende ein Vers aus der Offenbarung des Johannes steht, den schlichten Titel »3« gegeben. Deshalb denkt man natürlich sofort an die »3« als Synonym für die Trinität, aber auch an Zahlenmystik und ganz zuletzt erst an eine Bezifferung innerhalb einer kompositorischen Serie. Welche dieser Assoziationen trifft tatsächlich zu bzw. gibt es eine Hauptebene und Unterebenen?
M.A. Es gibt zwei Hauptebenen in dem Stück, die mit der Ziffer »3« beschrieben werden. Da ist zum einen die Kreiszahl (Pi). Durch sie wird die metrische Entwicklung des Stückes bestimmt und die Länge der Takte kontrolliert. Andererseits bezieht sich die »3« tatsächlich auf die Dreifaltigkeit und auf den heiligen Geist, in dem diese zum Ausdruck kommt.
A.E. Wie schon erwähnt, hast Du den Text Joh. 3,8* an das Ende der Partitur geschrieben. Eine Textvertonung im strengen Sinn gibt es aber nicht. Dennoch ist das Stück ohne diesen Text nicht denkbar. Welche Mittel hast Du verwendet, damit die Botschaft des Textes dennoch abgebildet wird?
M.A. Es gibt neben der Anwendung der Kreiszahl und der spirituellen Ebene der Trinität noch eine weitere Ebene. Dabei handelt es sich um Klangaufnahmen, die ich in Istanbul am Bosporus vom Wind gemacht habe. Es handelt sich dabei aber nicht um klassisches elektronisches Zuspielmaterial. Die Windgeräusche, die ich mit Zoom H5 (Anm. der Red.: Zoom H5 ist ein mobiles Aufnahmegerät) aufgezeichnet habe, habe ich anschließend mit Audioscript analysiert. Dabei bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass die Klanggestalt des Windes verschiedene Klangfarben von Vokalen suggeriert wie »a«, »e«, »i«, »o« oder »u«. Diese Vokalfarben wiederum sind für mich nicht einfach Vokalfarben, sie stehen im engen Bezug zur Identität von Jesus von Nazareth.
A.E. Ganz am Ende der Partitur wird der Name »Jesu« auch als Name kenntlich gemacht, allerdings in Buchstaben und Silben aufgesplittet und mit der Vortragsbezeichnung versehen »Quasi ‚Helikopterklänge’«. Kann man das auch als das Ziel Deiner Komposition bezeichnen, dass am Ende der Name »Jesu« erscheint?
M.A. Exakt. Ausgehend von der Analyse von der konkreten Klanggestalt des Windes sind diese Klänge auch als Darstellung des Heiligen Geistes zu begreifen. Einerseits verwende ich den Wind hier als metaphorischen Begriff, andererseits geht es natürlich auch um die Klangfarben der geräuschhaften Klangtypen. Das alles zusammen genommen ist das Ziel, ist die Botschaft des Stückes.
A.E. An einer anderen Stelle in der Partitur gibt sehr interessante Passage. Vordergründig liest und hört man die Vokale »A« und »O«. Aufgrund ihrer Rhythmisierung ergab sich für mich gleich die Assoziation zu »Alpha« und »Omega« als Metapher für Jesus-Gott-Geist im Sinne von Anfang und Ende allen Lebens.
M.A. Ja, genau darum geht es. Im Stück gibt es immer wieder Situationen (singt, haucht vor), die mehr wie ein »O« oder wie ein »A« klingen –und an dieser besagten Stelle kommt es zu dem was ich »Einverleibung« nenne. Es findet eine Verwandlung statt zum Ausdruck von Alpha und Omega. Wenn man so will ist das der Konsubstantiation im Ritual des Abendmahls vergleichbar. Ich denke überhaupt schon seit längerem über das klangliche Einverleiben des heiligen Geistes nach. In »3« habe ich das jetzt in einer sehr schutzlosen Besetzung versucht, nur mit Stimmen, ohne elektronische Zuspiele. Ich wollte damit dieses unglaubliche Moment der Verwandlung so transparent und so zart wie irgend möglich zum Ausdruck bringen.
A.E. Du verlangst deshalb auch sehr viel von den Sängern, denn die Vortragsbezeichnungen reichen bis zum fünffachen, teils bis zum sechsfachen piano. In diesen dynamischen Verhältnissen ist es unglaublich schwer für Stimmen, überhaupt noch mit Klangfarben zu arbeiten.
M.A. Ja, das ist schon richtig. Aber diese dynamischen Zeichen sind in Anführungszeichen notiert und also relativ zu verstehen. Diese Vortragsbezeichnungen sind vor allem wichtig für die Interpretation, denn es geht ja nicht nur puristisch um die Dynamik, sondern um die Ausformulierung der Stimmung des Stückes. Es geht um einen Weg zum Innersten und darum Intimität zu wahren. Eine mit sechsfachem »p« bezeichnete Akustik muss natürlich angepasst an den Raum interpretiert werden. Ich konnte das aber nicht anders notieren, um zu vermitteln, dass das Wehen des Heiligen Geistes für mich etwas zugleich sehr Starkes und doch Zartes ist.
A.E. Was an der Partitur auch auffällt, ist ihre Einteilung in verschiedene Achteltakte. Achteltakte haben etwas Leichtes, Schwingendes. Wird damit auch die Idee des Windes als Metapher für das Geistige zum Ausdruck gebracht?
M.A. Eben–und wie gesagt, die Metrik ist sehr streng von der Kreiszahl abgeleitet, es geht im übertragenen Sinne, um metrischen Atem, um Wellenbewegungen, die wiederum die Bewegungen des Geistes symbolisieren.
A.E. Standen für Dich bei der kompositorischen Arbeit die bisher beschriebenen Vorgehensweisen absolut im Vordergrund, oder spielte es für Dich auch eine Rolle, welches Stimm-Klang-Material Du bei den Neuen Vocalsolisten vorgefunden hast?
M.A. Die Stimmen der Neuen Vocalsolisten bilden in dem Stück ebenfalls eine ganz eigene Ebene. Ich habe sie alle individuell aufgenommen und diese Aufnahmen mit Audioscript analysiert. In den komponierten Fermaten sind praktisch die Klangfotografien von allen Vocalsolisten enthalten. Dabei handelt es sich um den analysierten Grundton eines jeden Solisten. Jeder der Sänger/innen hat seine/ihre Fermate. Die Formanten der anderen Sänger werden jeweils stumm, d.h. mit geschlossenem Mund gesungen.
A.E. Könnte man dies noch im weitesten Sinne als eine spektrale Form der Komposition bezeichnen?
M.A. Es gibt Stellen an denen sich eine gewisse Spektralität lokalisieren lässt–als Klangfotografie eines Solisten–aber spektral in dem Sinn, dass hier die Klanggestalt eines Solisten analysiert und in ihre Nuancen aufgefächert wurde, denn ich wollte hier ja die Klangidentität von jedem Solisten einsetzen. Das sind die Fermaten–Denn in der Reihe der Kreiszahl Pi gibt es manchmal die Zahl »0«. Ich habe das in 3/8-Takt gesetzt 1/8-Takt–4 x 4/8-Takt–wenn man so will ist das ein metrischer Atem.
A.E. Lässt sich »3« eigentlich als »Kirchenmusik« einordnen oder befindet sich das Stück für Dich in einer Schwebesituation zwischen säkular-spiritueller Komposition und primär religiös ausgeprägter Musik?
M.A. Eine gute Frage. Mein Stück gehört zur säkularen Welt, da es von einem säkularen Ensemble beauftragt wurde und von diesem auch aufgeführt wird, andererseits lässt sich natürlich die stark religiös ausgeprägte Ebene nicht leugnen.
A.E. Du meinst, man muss nicht nur die Ohren öffnen um zu hören?
M.A. Ja. Es geht ja um eine Art von Katharsis beim Hören und nicht um den puren physikalischen Vorgang. Dieses beobachtende Hören ist auch sehr anspruchsvoll für den Komponisten. So ist »3« voll von Mikroklangfarben, -räumen, -skalen, -familien, von Klang- und Zeitfamilien. Aber eben dadurch, dass sie so extrem zart, zerbrechlich sind, hinterlassen sie möglicherweise stärkere Spuren beim Hörer. Das hoffe ich zumindest.
A.E. Nun gibt es gegen Ende der Partitur, die eingangs erwähnte Stelle, an der der Name »Jesu« artikuliert wird, »quasi als Helikopterklänge« Ist das als die Antwort des heiligen Geistes, der durch die sieben Sänger angerufen wird und auch durch sie spricht?
M.A. Ja, das kann man so sagen. Außerdem geht es mir eben um die Idee der Aufhebung des Klangkörpers, um eine metaphysische Ebene. An dieser Stelle ist das Vokalensemble im Grunde kein Vokalensemble mehr sondern eine Art Metaklangkörper. Man hört hier geräuschhafte Klangtypen die aber vor allem etwas anderes sind bzw. meinen. Mir geht es hier um die Verwandlung von sehr artikulierten Klangtypen, morphologisch, psychologisch und um deren Ausleuchtung. Ich weiß–man macht sich mit solchen Äußerungen angreifbar. Der Vorwurf, es handle sich um Esoterik, könnte sehr schnell formuliert werden. Mit Esoterik hat das aber nichts zu tun. Wenn es mir nun aber gelungen sein sollte, einen musikalischen Geistkörper zu schaffen, dann wäre damit ein großartiges Ziel erreicht. Auch deshalb habe ich ja so zerbrechliche metrische Situationen komponiert, damit eine Introversion stattfinden kann, die letztlich zu einer großen Stärke führt und zu Trost, zu einem Gefühl des Aufgehoben seins. Und so ist die Anordnung des Ensembles hier für mich letzten Endes wie ein Abendmahl, bei es auch um die geistige Auseinandersetzung der Beteiligten miteinander geht. Während der Fermaten, wenn einer seinen Grundton singt und die anderen mit geschlossenem Mund Partialtöne ihres Grundklanges dazu singen, findet eine Art von Verwandlung statt und damit ein Abendmahl bei dem jeder seinen Ausweis zeigt.
*Joh 3,8 »Der Wind weht wo er will: du hörst sein Brausen,
weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht.
So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.«