Preisträgerkonzert zum Kompositionspreis der Landeshauptstadt Stuttgart 2015


Georg Friedrich Haas: Anachronism
für Ensemble (2013)
Laudatio von Dr. Michael Kunkel
Preisverleihung an Michael Pelzel
(Isabel Fezer, Bürgermeisterin der Landeshauptstadt Stuttgart)
Michael Pelzel: Sempiternal Lock-in
für großes Ensemble und Harfe solo (2012/13)
Enno Poppe: Koffer
für Ensemble (2011/12)
Virginie Tarrête, Harfe
Klangforum Wien
Leitung Enno Poppe
Georg Friedrich Haas: Anachronism scheint fundamental anders zu sein als meine früheren Werke. Eine schnelle, monotone, 14 Minuten dauernde 11/8-Bewegung. Ohne Pausen. Fast atemlos. Assoziationen zur Minimal Music sind ein wesentliches Element–obwohl die Zeitstruktur und die kompositorischen Prozesse weit entfernt sind von den historischen Bezugspunkten. Die harmonischen Fortschreitungen, die Entwicklungen der Akkorde sind die gleichen, die ich vorher genutzt habe. Der einzige–und fundamentale–Unterschied ist, dass hier die früher statischen Prozesse in einen signifikanten metrischen Puls gebrochen wurden. Eine Analogie zu Roy Lichtensteins Technik: Er bricht die glatten Flächen der gezeichneten Modelle (wie z.B. Comics) auf in eine Dynamik von Punkten und farbigen Kreisen.
(Georg Friedrich Haas)
Michael Pelzel: Sempiternal Lock-In–Im Jahr 2010 reiste ich im Rahmen eines Stipendiums der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für einen Arbeitsaufenthalt nach Südafrika. Am South African College of Music in Capetown lernte ich unter anderem die so genannte »lock in«-Spieltechnik auf »Akadindas« und »Amadindas« (sehr große, Marimba-ähnliche Mallet-Instrumente) kennen. Zwei bis drei Musiker bespielen ein Instrument von zwei Seiten, wobei jeweils durchlaufende Sechzehntel-, Triolen- oder freiere »Melodie«-Ketten entstehen, welche sich zu relativ einfachen inhärenten Patterns ergänzen. Bei präzisem Zusammenspiel kann das menschliche Ohr unterschiedliche »Ergänzungs-Patterns« in der mitklingenden Obertonstruktur hören, die nicht gespielt werden und nur in der akustischen Wahrnehmung im Raum entstehen. Zudem wird durch das »interlocking« ein horrend hohes Spieltempo präzise möglich, welches von einem Musiker alleine unmöglich ausgeführt werden könnte. Dabei spielt keiner der beiden Musiker auf »leichte« Zeit, sondern es gibt nur zwei schwere Taktzeiten, die wie zwei Zahnräder ineinandergreifen. Vermutlich ist das eines der wichtigsten Geheimnisse, einer der wichtigsten Unterschiede zu unserer westlichen Musik.
In Sempiternal Lock-in geht es um das prozessuale Ordnen und Strukturieren und um das Herausmodellieren ganz verschiedener Erscheinungsformen solcher rhythmisch-melodischer Gestalten–eine Musikwelt, die im Prinzip in der Traditionslinie der Werke von Steve Reich, György Ligeti und Conlon Nancarrow gesehen werden kann. Die Patternstrukturen werden sukzessive ausgedünnt und verdichtet und das permanente »Interlocking« macht die teilweise horrend schweren Figuren durch das Ineinandergreifen von zwei verschiedenartigen Patterns relativ leicht und traditionell spielbar.
Durch die Arbeit mit den dynamischen und sich intern entwickelnden Patterns wird es möglich, großformale Prozesse sog-artig und zielgerichtet zu gestalten und rhythmisch-motivische Energien in der Zeit zu bündeln. Das Zusammenführen verschiedener, zunächst unabhängiger Patternstränge zu einem einzigen ermöglicht einschneidende formale Höhe- und Kulminationspunkte. Es entstehen einerseits rhythmisch komplexe und gleichzeitig physisch sehr erlebbare, haptische Klang- und Höreindrücke. Eine von einer unbändigen motorischen und tänzerischen Energie gebündelte und von Farbenreichtum in der Instrumentation kolorierte Musik schwebt mir vor.
(Michael Pelzel)
Enno Poppe: Koffer Manche Stücke sind beendet, wenn sie beendet sind. Andere Stücke bleiben auf dem Schreibtisch, weil die Ideen nicht abgeschlossen sind, sondern Potenzial haben, das ich zuerst nicht gesehen habe oder nicht ausgearbeitet.
Koffer ist keine Opernsuite. Die Musik basiert auf fünf Stücken, die alle aus meiner Oper IQ stammen. Diese Musik wird weitergedacht, aufgefüllt und ausgedünnt, transformiert. Durch die Verwandlung von Gesungenem in Instrumentales entsteht eine ganz andere Bedeutung, ein anderer Ausdruck, andere Gestalten. In einer Oper geht immer die Aufmerksamkeit auf den Sänger, auf Text und Handlung. In der Transformation ist plötzlich alles Klang, was vorher Szene war. Zugleich ist immer noch alles Gesang im Stück, das Opernhafte ist ja in der stark expressiven Musik immer noch enthalten. Was in der Oper genau geschieht, muss man nicht wissen, um Koffer anzuhören. Man kann aber das Gesangliche, das Lineare des Stückes selbst wahrnehmen als Erzählung, als Ausdruck.
In IQ spielt der Testkoffer eine entscheidende Rolle. Zugleich ist ein Koffer ein Aufbewahrungs- und Transportmittel. Nach Schrank und Speicher ist Koffer ein drittes Stück, das sich mit Ordnungsideen beschäftigt.
(Enno Poppe)

© Vinzenz Niedermann