Lesia Pcholka: Invisible Trauma
für Chor, Bassklarinette, Elektronik und Video
(2021/2022)Seit Anfang August 2020 haben viele Medien weltweit die Geschichten von belarusischen Bürger:innen veröffentlicht, um auf die extreme physische Gewalt in den Haftanstalten des Landes aufmerksam zu machen. In diesen Berichten werden zwar körperliche Schäden wie blaue Flecken und jahrelange Gefängnisaufenthalte geschildert, doch der emotionale Tribut, den die staatliche Gewalt von ihren Opfern fordert, wird nur selten erwähnt. Inmitten der erschreckenden Details von illegalen Inhaftierungen, Schlägen und Folter übersehen wir oft andere, ganz alltägliche Erscheinungsformen der Unterdrückung. Ständige Angst, Hilflosigkeit, Paranoia, mangelnde Sicherheit oder Schwierigkeiten, das Land zu verlassen, werden überhaupt nicht erwähnt, weil es »ernstere Probleme zu bewältigen gibt«. Infolgedessen werden Tausende von Belarus:innen mit ihren Traumata allein gelassen, ungehört, unbemerkt und unsichtbar.
Unmittelbar nach den Wahlen im Herbst 2020 begann ich, Geschichten zu sammeln und die Befragten zu fotografieren. Zu dieser Zeit wurde jede kritische Aktivität gegenüber dem Staat immer gefährlicher. Die Veröffentlichung meines Dokumentarfilmprojekts »Invisible Trauma« wurde im Herbst/Winter 2020 in drei bekannten belarussischen Medien blockiert. Es war für mich nicht sicher, das Projekt fortzusetzen, da Aktivismus und öffentliche Äußerungen verfolgt wurden.
Als die Repressalien zunahmen, begannen die Menschen, indirekte Symbole zu verwenden, um ihren Protest auszudrücken. Nachdem die weiß-rot-weiße Kombination vom Regime als extremistisch eingestuft worden war, wurde sie durch ein weißes Blatt Papier in den Fenstern ersetzt. Selbst ein leeres Blatt Papier konnte zu einer Verhaftung führen. Dieses Bild zeigt genau, wie absurd und gefährlich das System des Regimes ist.
Da ich mit den Medien nicht mit den üblichen dokumentarischen Methoden arbeiten konnte, begann ich, den Online-Raum zu nutzen und mit weißem Papier auf einem Glas als Bild der Unsichtbarkeit zu arbeiten. Ich schuf einen Chatbot in Telegram, um anonym Geschichten zu sammeln, und einen Instagram-Account, auf dem Geschichten veröffentlicht werden, die von anderen Menschen erzählt werden.
Ich porträtiere meine Probanden nicht mehr und treffe mich auch nicht mehr persönlich mit ihnen. Stattdessen schaffe ich einen Raum, in dem sie selbst ein Foto machen und ihre Geschichte anonym aufschreiben können. Die Gesichter dieser Menschen sind hinter einer Maske in Form eines weißen Blattes Papier verborgen, oder durch diese Maske, die ich auf Instagram erstellt habe. Der virtuelle Raum ist der einzige, den wir haben, um unseren Protest auszudrücken.
Bis heute sind alle unabhängigen Medien im Land blockiert, und mehr als 200 Nichtregierungsorganisationen werden aufgelöst. Es gibt keine einzige unabhängige Kunstgalerie im Land, und die Aktivisten werden verfolgt. Derzeit gibt es mehr als 700 politische Gefangene, deren Strafen zwischen 2 und 18 Jahren liegen. Im vergangenen Jahr wurden mehr als 40.000 Menschen aufgrund politisch motivierter Anschuldigungen für 10 bis 45 Tage inhaftiert oder mit hohen Geldstrafen belegt. Das Gesetz funktioniert heute in Belarus nicht, es gibt nur Repression, Folter in den Gefängnissen und endlose Angst.
Lesia Pcholka