One line

Luciano Berio: A-Ronne

für fünf Akteure

(1974/1975)

Der Stoff von A-Ronne besteht aus der elementaren Vokalisation eines Textes und deren Umwandlung in eine wohl ebenso elementare Gestalt, die zugleich aber schwer zu beschreiben ist. Tatsächlich handelt es sich nicht um eine musikalische Komposition im herkömmlichen Sinne, obwohl ihr Ablauf häufig einem musikalischen Verfahren entspricht (Stimmfall, Intonation, Ausbau von Alliteration und Übergang von Klang zu Geräusch, gelegentlicher Gebrauch von elementarer Melodik, Polyphonik und Heterophonik). Das musikalische Wesen von A-Ronne ist elementar, d.h. es kommt in allen Ereignissen, von der Umgangs- bis zur Bühnensprache, vor, bei denen eine Änderung der Ausdrucksweise eine Änderung der Bedeutung mit sich bringt und veranschaulicht. Deswegen ziehe ich es vor, dieses Werk als faktischen Kommentar zu einem Gedicht von Edoardo Sanguineti zu beschreiben, einem Kommentar zu einem Gemälde oder einem fernen Lande vergleichbar. Das Gedicht wird mehrmals vorgetragen, wird aber nicht als zu vertonender, sondern eher als zu analysierender Text behandelt, als »Generator« verschiedener vokaler Situationen und Ausdrucksweisen. Letzten Endes ist A-Ronne auch ein Art madrigale rappresentativo, d.h. »Schauspiel für die Ohren« des späten Cinquecento und vokale »naive Malerei«, denn der Bereich der Gegebenheiten kann ungeachtet seiner Reichweite stets auf elementare Situation erkennbare, vertraute, vielfach sprichwörtliche Empfindungen bezogen werden: ein geselliges Beisammensein, ein Gespräch auf der Straße, eine sprachtherapeutische Behandlung, die Beichte, die Kaserne, das Schlafzimmer usw.

 

Sanguinetis Dichtung, die in A-Ronne etwa zwanzigmal und fast immer von Anfang bis zu Ende wiederholt wird, behandelt drei Themen: im ersten Teil das Thema Anfang, im zweiten die Mitte und im dritten das Ende. Das Gedicht besteht ausschließlich aus Zitaten in verschiedenen Sprachen, die sich von den ersten Worten des Johannesevangeliums (auf lateinisch, griechisch, deutschLuthers Übersetzung mit Goethes Modifikationen in Faust I) zu Elias erstreckt; von einem Dante-Fragment bis zu den ersten Worten des Kommunistischen Manifests; von einigen wenigen Worten aus einem Essay über Bataille von Barthes bis zu den letzten drei Wörtern oder Zeichen (ette, conne, ronne), die im alten italienischen Alphabet nach dem Z kamen, und auf die welche die heute nicht mehr gebräuchliche Redensart »von A bis Ronne« anstatt » von A bis Z« zurückgeht. Daher ist auch das Gedicht eine sehr gegliederte und zusammenhängende Reihe von Redensarten, folglich begegnen einem in A-Ronne vielfach musikalische Redensarten. Die gesungenen Partien, die gelegentlich auftreten, nehmen keine eigenständige musikalische Bedeutung ein: sie sind lediglich Augenblickevielleicht die einfachstenin der Liturgie vokaler Geschehnisse. Allein der kurze Schlussteil, der sich auf einer Reihe gänzlich elementarer, harmonischer »Alliterationen« aufbaut, führt ein musikalisches Eigenleben.

 

Das musikalische Wesen von A-Ronne liegt daher nicht in den gesungenen Partien, sondern in der Beziehung von niedergeschriebenem Text zur »Grammatik« vokalen Verhaltens; vom Gedicht, das sich stets an seinen Wortlaut hält, zur vokalen Artikulation, die dessen Bedeutung sowie Beziehungspunkte ständig umwandelt. Daher wirken sich die beiden Koordinationen (geschriebener Text und vokales Verhalten) stets auf verschiedene Weise aufeinander aus, sodass, sich dauernd ein neuer Sinn ergibt. Dieser Sachverhalt entspricht genau der Funktion von Vokalmusik und Umgangssprache, bei der vor allem der Beziehung der grammatischen bzw. akustischen Größen zueinander die endlose Mannigfaltigkeit von menschlicher Sprache und Gesang zuzuschreiben ist.

(Luciano Berio )